Das Buch
Einleitung
Vom Wandel zum Stillstand der österreichischen Neutralität … und retour?
Martin Senn & Jodok Troy
Martin Senn und Jodok Troy erklären in ihrem Beitrag, dass sich die Neutralität Österreichs mehrfach gewandelt hat, wobei in der letzten Phase dieses Wandels die politische Debatte über die Neutralität stagnierte. Dass diese Debatte trotz der sicherheitspolitischen Zeitenwende in Europa nicht in Gang kommt, führt der Beitrag auf die Wirkung der Neutralität als politischer Mythos, die Themenführerschaft der FPÖ und die starke Polarisierung des Themas zurück.
Auftakt
Darum prüfe, was Dich ewig bindet
Warum eine Debatte über die Neutralität notwendig ist und wie sie angelegt sein sollte
Martin Senn
Martin Senn argumentiert, dass eine Debatte über die Neutralität Österreichs notwendig und überfällig ist, weil sich die inneren und äußeren Rahmenbedingungen österreichischer Außen- und Sicherheitspolitik grundlegend gewandelt haben. Um fundierte Entscheidungen zu ermöglichen, sollte die Debatte auf Erkenntnisse aus Wissenschaft und Praxis zurückgreifen, Neutralität als Instrument und Prinzip sowie als Bezugs- und Konfliktpunkt hinterfragen und die Öffentlichkeit einbinden.
Die Einstellungen der Österreicher:innen zur Neutralität
Anna Saischek und Anna Stock
Anna Saischek und Anna Stock untersuchen die Einstellungen der Österreicher:innen zur Bedeutung der Neutralität, dem Verhältnis zwischen Neutralität und europäischer Solidarität sowie zur Zukunft der Neutralität. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Neutralität zwar weiterhin starken Rückhalt genießt, es bei den Einstellungen jedoch teils deutliche Unterschiede auf Basis des Alters und der politischen Verortung (rechts, Mitte, links) der Befragten gibt.
Recht und Ethik der Neutralität
Eine kurze Ideengeschichte der völkerrechtlichen Neutralität in Europa
Miloš Vec
Miloš Vec untersucht, wie sich die völkerrechtliche Neutralität in Europa von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert entwickelt hat. Dabei zeigt er, dass die Neutralität im 19. Jahrhundert eine Hochphase erlebte, während sie im 20. Jahrhundert durch das Verbot von Angriffskriegen und das Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen sowie durch die Entwicklung kollektiver Sicherheit und internationaler Solidaritätsprinzipien zusehends kritischer betrachtet wurde.
Die Neutralität im Völkerrecht
Stephan Wittich
Stephan Wittich grenzt in seinem Beitrag Neutralität von verwandten Konzepten wie Bündnisfreiheit oder Nicht-Kriegsführung ab und untersucht die völkerrechtlichen Rechte und Pflichten neutraler Staaten, wie sie in den Haager Abkommen von 1907 kodifiziert wurden. Er diskutiert ebenfalls die vielfältigen Herausforderungen, die sich für die Neutralität und neutrale Staaten aus dem System kollektiver Sicherheit der Vereinten Nationen und modernen Formen der Austragung bewaffneter Konflikte ergeben.
Der rechtliche Rahmen der österreichischen Neutralität im Wandel
Andreas Th. Müller
Andreas Th. Müller analysiert, wie Österreich den rechtlichen Rahmen seiner Neutralität an die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen und der Europäischen Union angepasst hat. Er zeigt dabei vor allem, dass sich Österreich verfassungsrechtlich uneingeschränkt an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU beteiligen kann, und betont, dass die Form und das Ausmaß der Beteiligung von politische Entscheidungen abhängen.
Rechtliche Mitwirkungsmöglichkeiten des Staatsvolks in der Beibehaltung und Abschaffung der Neutralität
Peter Bußjäger
Peter Bußjäger befasst sich mit dem Szenario einer Beendigung der Neutralität Österreichs und der Frage, inwiefern das Staatsvolk dabei eingebunden werden müsste oder könnte. Er erläutert den verfassungsrechtlichen Statuts der Neutralität und betont, dass diese kein Bauprinzip der Verfassung darstellt und daher keiner Volksabstimmung zur Änderung bedarf. Eine Einbindung des Staatsvolkes scheint jedoch politisch geboten, weshalb Peter Bußjäger in seinem Beitrag verschiedene Möglichkeiten der Einbindung erörtert.
Ethische Beurteilungen der Neutralität – Eine Einordnung
Jodok Troy
Jodok Troy widmet sich in seinem Beitrag der ethischen Beurteilung der Neutralität, also der Frage, inwiefern sie gut oder schlecht, angemessen oder unangemessen sein kann. Er zeigt auf, dass Neutralität weder per se ethisch noch unethisch ist, sondern ihre Bewertung von der zugrunde liegenden ethischen Position abhängt. Zudem skizziert er Positionen, die man zur Bewertung heranziehen kann, und plädiert für deren konsistente und reflektiert Anwendung in Debatten über Neutralität.
Die österreichische Neutralität aus der Perspektive katholischer Friedensethik
Wolfgang Palaver
Wolfgang Palaver beleuchtet die österreichische Neutralität aus der Perspektive der katholischen Friedensethik. Er konzentriert sich dabei vor allem auf das Spannungsverhältnis zwischen Neutralität und kollektiver Sicherheit im Rahmen der Vereinten Nationen. Zudem plädiert für ein neues Verständnis der Neutralität, das sich stärker an friedensethischen Prinzipien orientiert und damit zur Entwicklung einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur beitragen kann.
Die ethische Dimension der österreichischen Neutralität
Spannungspunkte und Widersprüche
Franz Cede und Ralph Janik
Franz Cede und Ralph Janik beleuchten ethische Spannungspunkte der österreichischen Neutralität. Sie konzentrieren sich dabei auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik Europas sowie Russlands Aggressionskrieg gegen die Ukraine und kritisieren Österreichs zögerliche und damit ethisch fragwürdige Haltung. Zudem betonen sie, dass neutrale Staaten eine besondere Verantwortung tragen, ihre militärische Zurückhaltung durch verstärktes ziviles und diplomatisches Engagement auszugleichen.
Politische Praxis der Neutralität
Genese, historischer Wandel und aktuelle Fragen der Neutralität Österreichs
Wolfgang Mueller
Wolfgang Mueller analysiert die historischen Bedingungen, die zur Entstehung der Neutralität führten, und den Wandel ihrer politischen Interpretation seit 1955. Als zentrale Fragen und Herausforderungen der österreichischen Neutralitätspolitik identifiziert er die mangelhafte Verteidigungsfähigkeit Österreichs, die Relevanz der Neutralität für das außenpolitische Profil und Engagement des Landes sowie das Verhältnis zur europäischen Solidarität in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Neutralität und militärische Sicherheitspolitik
Zwischen Wert und Wertlosigkeit
Thomas Nowotny
Thomas Nowotny untersucht die Neutralität Österreichs im Kontext der militärischen Sicherheitspolitik. Er zeigt, wie Österreich seine Verteidigungsfähigkeit bereits während des Ost-West-Konflikts vernachlässigte und sich auch danach zunächst kaum mit Fragen militärischer Sicherheit auseinandersetzte. Angesichts von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine diagnostiziert er ein wachsendes Bewusstsein für Sicherheitspolitik und eine Orientierung hin zu europäischer Sicherheit und Verteidigung.
Postheroische Neutralität und europäische Solidarität
Ralph Janik
Ralph Janik untersucht in seinem Beitrag, warum Österreichs Gesellschaft eine vergleichsweise geringe Bereitschaft zur militärischen Landesverteidigung und eine noch geringere Bereitschaft zur gemeinsamen europäischen Verteidigung zeigt. Als Erklärung identifiziert er eine isolationistische und post-heroische Grundhaltung der Österreicher:innen, also eine geringe Leidens- und Opferbereitschaft für das politische Gemeinwesen, die sich im Schatten der Neutralität entwickelt hat.
Bewaffnete Neutralität und Gesellschaft
Die geringe Wehrhaftigkeit der österreichischen Bevölkerung
Franz Eder und Gregor Salinger
Franz Eder und Gregor Salinger setzen sich in ihrem Beitrag mit der geringen Wehrhaftigkeit der österreichischen Gesellschaft auseinander, die in zunehmendem Kontrast zu den steigenden Investitionen in das Bundesheer steht. Sie kritisieren, dass der Befund einer post-heroischen Gesellschaft zu kurz greift, und argumentieren, dass sich die geringe Wehrhaftigkeit vor allem durch die Abwesenheit sicherheitspolitischer Themen in der öffentlichen Wahrnehmung und Debatte erklären lässt.
Neutraler Staat und Brückenbauer?
Österreich als Vermittler im Kalten Krieg
Anna Graf-Steiner und Peter Ruggenthaler
Anna Graf-Steiner und Peter Ruggenthaler untersuchen in ihrem Beitrag Österreichs Rolle als Vermittler bzw. diplomatischer Brückenbauer während des Ost-West-Konflikts. Sie zeigen, dass Österreich in akuten Krisenphasen nur begrenzt zur Verbesserung der Beziehungen zwischen Ost und West beitragen konnten. In Phasen der Entspannung leistete die österreichische Diplomatie jedoch nachhaltige Beiträge, etwa im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.
Das neutrale Österreich als Sitz internationaler Organisationen?
Entstehung und Verselbständigung politischer Narrative
Sarah Knoll und Elisabeth Röhrlich
Sarah Knoll und Elisabeth Röhrlich analysieren die Rolle der österreichischen Neutralität bei der Ansiedlung internationaler Organisationen. Sie hinterfragen die verbreitete Erzählung, dass die Neutralität der entscheidende Faktor für die Wahl Wiens war, und zeigen, dass auch Faktoren wie Steuervergünstigungen, Österreichs geopolitische Lage oder diplomatisches Lobbying einflussreich waren. Zudem beleuchten sie, wie die Erzählung der Anziehungskraft der Neutralität politisch genutzt wurde.
Aktive und engagierte Neutralitätspolitik Österreichs
Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung als konkretes Beispiel
Alexander Kmentt
Alexander Kmentt argumentiert, dass Österreich seine Neutralität nutzt, um eine führende Rolle in der internationalen Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung einzunehmen. Er zeigt dies am Engagement gegen Landminen, Streumunition und Nuklearwaffen sowie an aktuellen Bestrebungen zur Regulierung autonomer Waffensysteme. Schließlich plädiert er dafür, dass Österreich durch ein weites Sicherheitsverständnis zum europäischen Friedensprojekt beitragen sollte.
Neutralität als Rollenverständnis
Eine außenpolitische Beharrungskraft in Zeiten des Wandels
Marion Foster
Marion Foster untersucht, wie sich die Neutralität von einem außen- und sicherheitspolitischen Instrument zu einem Rollenverständnis entwickelt hat, also einem Konzept über den Charakter der Außenpolitik und Österreichs Positionierung im internationalen Umfeld. Sie zeigt, wie sich Erzählungen, die dieses Rollenverständnis stützen, verfestigt haben und gegenwärtig dazu beitragen, dass es Österreich schwerfällt, die Neutralitätspolitik an veränderte Rahmenbedingungen anzupassen.
Trojanisches Pferd, Taktgeber und Trittbrettfahrer
Außenwahrnehmungen der österreichischen Neutralität seit 1955
Laure Gallouët
Laure Gallouët beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Außenwahrnehmung der österreichischen Neutralität. Sie zeichnet nach, wie sich diese seit 1955 gewandelt hat: vom „trojanischen Pferd“ im Herzen Europas über einen engagierten Taktgeber internationaler Diplomatie bis hin zum sicherheitspolitischen Trittbrettfahrer. Abschließend plädiert sie für eine klare Positionierung Österreichs innerhalb der europäischen Sicherheitsarchitektur, um Vertrauen und Glaubwürdigkeit zu stärken.
Der Blick nach außen
Die Neutralität der Schweiz
Mutig, opportunistisch, oder hilflos?
Laurent Goetschel
Laurent Goetschel untersucht, wie die Schweiz ihre Neutralität in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart an veränderte Rahmenbedingungen angepasst hat. Er zeigt, dass das System kollektiver Sicherheit der UNO und die regionale Kooperation in Europa zu zentralen Bezugspunkten der Neutralitätsdebatte und -politik nach 1945 wurden. In der Zeit nach dem Februar 2022 sieht er keine breite Neutralitätsdebatte, wohl aber drei sicherheitspolitische Debattenstränge mit Neutralitätsbezug.
Die Neutralität Irlands
Identitätsmerkmal und Rahmen sicherheits- und verteidigungspolitischer Diskussionen
Kenneth McDonagh
Kenneth McDonagh argumentiert, dass die Neutralität Irlands vor allem ein Identitätsmerkmal des Staates und ein weitgehend unhinterfragter Rahmen für Debatten über Außen- und Sicherheitspolitik ist. Anhand aktueller Debatten zeigt er Spannungen zwischen dem Festhalten an der Neutralität und dem Wunsch nach sicherheitspolitischer Integration, die Instrumentalisierung der Neutralität durch populistische Akteure sowie eine auf innerstaatliche Bedrohungen fokussierte Sicherheitskultur.
Die Neutralität Maltas
Vom Neutralismus zur (prekären) Balance mit der EU-Mitgliedschaft
Roderick Pace
Roderick Pace erklärt in seinem Beitrag, wie Malta nach der Unabhängigkeit zunächst mit Blockfreiheit liebäugelte, Neutralität später in der Verfassung verankerte und seit dem EU-Beitritt versucht, den Spagat zwischen Neutralität und sicherheitspolitischer Integration zu meistern. Er argumentiert, dass die Neutralität zunächst vor allem ein Instrument zur Wahrung von Sicherheit und Souveränität war und im Laufe der Zeit zu einem zentralen Bestandteil der maltesischen Identität wurde.
Zeitenwende in Schweden und Finnland
Von der Allianzfreiheit zur NATO-Mitgliedschaft
Kristina Birke Daniels
Kristine Birke Daniels untersucht, wie Schweden und Finnland 2022 ihre Tradition der Neutralität und Allianzfreiheit aufgaben und der NATO beitraten. Sie zeigt, dass Finnland den Beitritt unter Sanna Marin entschlossen vorantrieb, während Schweden ideologisch stärker an die Neutralität gebunden war und auf interne wie externe Widerstände traf. Schließlich diagnostiziert sie eine tiefgreifende Veränderung in der sicherheitspolitischen Selbstwahrnehmung und Positionierung beider Staaten.